I
Die Corona-Zeit ist für uns alle eine Extremsituation, die wir so bisher nicht kannten und durchleben mussten. Und wie in jeder extremen Lebenssituation – so sagte mir ein Arzt in diesen Tagen – bringt diese das Gute, aber gerade auch das Schlechte im Menschen zum Vorschein. Er hat fordernde Patienten am Telefon, die für sich z.B. noch schnell eine Impfung gegen Grippe verlangen und ärgerlich uneinsichtig reagieren, zum Teil aggressiv werden, wenn der Impfstoff nicht verfügbar ist.
Und auch die unsolidarischen Hamsterkäufe in den Anfangszeiten von Corona gehören zu diesen plötzlich auftauchenden Schattenseiten des Menschen.
Was lösen Informationen über unsolidarisches Verhalten anderer Menschen in uns aus? Wie beeinflussen sie unser Denken und Handeln?
Lassen wir uns von ihnen anstecken und beginnen ebenfalls vorrangig an uns zu denken? Oder bewahren wir die Ruhe und haben auch die anderen im Blick?
Wie können wir den Anstand in schwierigen Zeiten bewahren?
II
Die gegenwärtige Situation erfordert von uns, neue Verhaltensweisen zu beachten und einzuüben: Ausgangsbeschränkungen, social distancing, Homeoffice, „Home-Living“ (Bruno Jonas).
Was vermissen wir in dieser Zeit wirklich?
Was brauchen wir wirklich, um ein gutes Leben führen zu können?
Was entdecken wir neu in unserem Leben?
III
Die gegenwärtige Situation gleicht einem Lebensexperiment. Nicht geplant und nicht gewollt. Global, die ganze Welt betreffend und zugleich lokal, unser eigenes Leben massiv beeinflussend.
Es ist ein schmerzliches Experiment. Geschäfts- und Werksschließungen, Kurzarbeit und drohende Arbeitslosigkeit, Krankheit bis hin zum Tod.
Es ist ein beunruhigendes Experiment. Denn das bislang selbstverständliche Leben verliert seine Selbstverständlichkeit. Wir sind konfrontiert mit Grenzen des Lebens, mit unserer menschlichen Endlichkeit und Sterblichkeit. Leben ist prekär, unsicher.
Es ist ein Experiment, das aber auch Überraschendes entdecken lässt.
• Menschen entdecken die „Langsamkeit der Zeit“ (Sven Nadolny)
und darin die Stille und Einfachheit.
• Menschen entdecken die anderen. Den Nachbarn, der Hilfe braucht.
Die nahen und fernen Verwandten, mit denen Kontakt gehalten wird.
• Menschen werden kreativ in kleinen Solidaritäten.
Die Buchbestellung beim örtlichen Buchhändler, nicht bei Amazon. Eine Pizza bestellen und abholen beim kleinen Italiener am Ort. Aufmerksamkeiten verschicken per Post.
• Menschen erfahren die Anfälligkeit der global vernetzten Welt
und lernen das Lokale und Regionale schätzen.
• Menschen stellen fest, dass die Natur sich zumindest ein wenig erholt.
Welche Überraschungen konnten wir in diesen experimentellen Zeiten entdecken?
IV
Eine Befürchtung treibt mich um: dass es nach der sogenannten Krise wieder so weiter geht wie vorher in unserem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, individuellen Leben.
Das Stichwort lautet „wieder hochfahren“. In allen Lebensbereichen – Wirtschaft (Forderung nach künstlichen Kaufanreizen der Autoindustrie), Konsum (Stimulierung der Kauflust durch die Einführung von „Corona-Sonntagen“), Tourismus etc. – soll „das Leben wieder hochgefahren werden“. Und Hochfahren bedeutet, dass die Standards, die vor der Krise gültig waren, wieder erreicht werden müssen, um die „alte“ Normalität wiederherzustellen. Hochfahren, damit es so weiter geht wie bisher.
Die Corona-Krise zeigt uns aber auch Schwächen der „alten Normalität“ (z.B. die Ökonomisierung des Gesundheitswesens) und bringt bislang Übersehenes zum Vorschein (z.B. die sogenannten systemrelevanten Berufe). Es wäre daher für die Zukunft eine lohnende Aufgabe zu fragen:
Was zeigt uns das Experiment Corona über unsere Gesellschaft?
Was entlarvt die aktuelle Zeit an Zuständen, die in unserer Gesellschaft falsch laufen?
Was lernen wir aus der Krise? Was müssen wir gegebenenfalls verlernen und loslassen?
Was können wir neu lernen?
V
Wie sind wir als Gemeinde, als Pfarreiengemeinschaft durch die Krise gekommen? Wie waren und sind wir für die Menschen, v.a. die Alten, Kranken, Alleinstehenden präsent gewesen? Welche Zeichen der Solidarität haben wir gesetzt?
Aufgrund meiner eigenen lokalen Kirchenerfahrung bin ich da ziemlich ratlos. Wir haben keinen Weg gefunden, die menschenfreundliche Zuwendung Gottes zu den Menschen in dieser Krise zu leben. Hoffentlich haben andere Gemeinden andere Erfahrungen praktisch gelebter Solidarität.
VI
Ein ermutigender Lesungstext aus der Apostelgeschichte, 2,25-28/Psalm 16,8-11 in diesen Tagen:
Ich sah den Herrn vor mir allezeit;
denn zur Rechten ist er mir,
dass ich nicht wanke.
Ob dem ward fröhlich mein Herz
und jubelte meine Zunge.
Denn auch mein Fleisch wird gebettet auf Hoffnung hin.
Doch du wirst mein Leben
nicht in der Totenwelt im Stich lassen
und nicht zugeben, dass Verderben sehe dein Heiliger.
Du tatest Wege des Lebens mir kund,
erfüllen wirst du mich mit Fröhlichkeit
vor deinem Angesicht.
Robert Ochs